Warum dürfen in vielen Kantonen nur Schüler:innen mit einem ärztlichen Nachweis von Depression, verminderter Leistungsfähigkeit oder Krankheit eine Klasse wiederholen? Warum schenkt man Jugendlichen und Kindern nicht einfach ein Jahr? Sie entwickeln sich ja sehr unterschiedlich schnell…

Vielen Dank für die spannende und relevante Frage, die ich gerne versuche zu beantworten.

Es wurde intensiv zu diesem Thema geforscht und die Studienlage dazu ist ziemlich eindeutig. Studien in verschiedenen Ländern belegen, dass die Schüler:innen meist im wiederholenden Jahr etwas "Luft" verspüren und kurzfristig auch etwas bessere Leistungen zeigen, dass sich dieser Vorsprung aber ziemlich schnell wieder auflöst (Bless et al., 2004, Moser et al., 2012; Hattie, 2009). Das heisst, auf längere Frist bringt die Repetition für die Leistungsergebnisse (z.B. Noten im Zeugnis, späterer Schulabschluss, spätere berufliche Karriere) keinen Vorteil.

Man hat langfristig gleiche Ergebnisse, wie wenn man nicht repetiert hätte.

Studien zeigen zudem, dass die Repetition auch Nachteile mit sich bringt:

  • höhere Schulabbruchquote (Hughes et al., 2017),
  • höhere Gefahr später keinen Schulabschluss zu haben (Jacob & Lefgren, 2009),
  • geringeres Selbstwertgefühl und tiefere Motivation (Kretschmann et al., 2019).
  • Zudem kann es emotional auch belastend sein, wenn das ganze Freundesnetzwerk verloren geht oder man sogar wegen der Repetition eher stigmatisiert/ausgeschlossen wird. Diese Nachteile beeinflussen dann auch die weiteren Schuljahre.

Es gibt auch Studien, die aus wirtschaftlicher Sicht zeigen, dass eine Repetition hohe Kosten verursacht und es keine signifikanten Vorteile für die langfristigen Bildungsergebnisse bringt (Manacorda, 2012).

Aus dem Bauchgefühl heraus würde man denken, dass man mit etwas mehr Zeit zum Üben besser wird und weiterkommt. Dies ist aber nur der Fall, wenn man in dem Schuljahr psychisch oder physisch belastet war (z.B. Todesfall von Elternteil, stark einschränkende Krankheit mit vielen Absenzen wie bei einer Krebstherapie, psychische Erkrankungen wie Depression) und diese Belastungen die Leistungsfähigkeit eingeschränkt haben. Ist die Leistungsfähigkeit aus anderen Gründen eingeschränkt, kann man dies mit mehr Zeit nicht aufholen.

Deshalb ist auch in kantonalen Empfehlungen oder Richtlinien häufig festgehalten, dass eine Repetition nur als letzte Massnahme zu erwägen ist. Man sollte besser mit niederschwelligen oder auch verstärkten Massnahmen das Kind fördern und im neuen Schuljahr unterstützen. Beispiele solcher Fördermassnahmen:

  • Förderstunden bei einer Fachperson für Schulische Heilpädagogik sein (auch als IF-Lehrperson, SHP bekannt).
  • Allenfalls wären eine schulpsychologische Beratung oder gewisse Abklärungen angezeigt, um herauszufinden weshalb das Kind weniger schnell lernt. Vielleicht gibt es Gründe (z.B. eine Lese-Rechtschreib-Störung), die man dann gezielt angehen kann.
  • Andere Möglichkeiten wie ein Nachteilsausgleich können in Betracht gezogen werden.
  • Wenn das Kind oder der/die Jugendliche sehr weit vom Stoff der Klasse entfernt ist, kann man auch individuelle Lernziele für gewisse Fächer abmachen. Dann kann man in seinem eigenen Tempo weiterlernen und hat weniger den Leistungsdruck. Dieser Entscheid muss aber sorgfältig überlegt sein, da dies auch stark einschneidend ist für die Schulkarriere eines Kindes. Je nach Kanton sind da unterschiedliche Personen involviert – meist aber die Lehrperson, die SHP, die Eltern und die Schüler:in selbst.

Wie Sie selbst sagen, entwickeln sich Schüler:innen unterschiedlich schnell. Deshalb geht man als Lehrperson von einer gewissen (Leistungs-)Heterogenität in der Klasse aus. Damit alle Schüler:innen auf ihrem Niveau, wo sie gerade sind, weiterlernen können, werden unterschiedliche Lernangebote gemacht. Durch diesen differenzierten Unterricht und zusätzlicher (sonderpädagogischer) Unterstützung können Lernschwierigkeiten besser angegangen werden als mit einer Repetition.

Ich hoffe, Sie können diesen Überblick über die Studienlage und die Gedanken, die man aus pädagogischer Sicht macht, nachvollziehen. Zugleich hoffe ich, dass ich mit meiner Antwort weiterhelfen konnte.

Mit lieben Grüssen

Janina Kraft

Quellen:

  • Bless, G., Schuepbach, M., & Bonvin, P. (2004). Klassenwiederholung; Determinanten, Wirkungen und Konsequenzen. Bern: Haupt. http://hdl.handle.net/20.500.12162/343
  • Hughes, J. N., Cao, Q., West, S. G., Allee Smith, P., & Cerda, C. (2017). Effect of retention in elementary grades on dropping out of school early. Journal of school psychology, 65, 11–27. https://doi.org/10.1016/j.jsp.2017.06.003
  • Hattie, John. (2009). Visible Learning: A Synthesis of Over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement. Routledge. https://doi.org/10.4324/9780203887332
  • Jacob, Brian A., & Lefgren, Lars (2009). "The Impact of Grade Retention on High School Completion." American Economic Journal: Applied Economics, 1 (3), S. 33-58 https://www.aeaweb.org/articles?id=10.1257/app.1.3.33
  • Kretschmann, J., Vock, M., Lüdtke, O., Jansen, M., & Gronostaj, A. (2019). Effects of grade retention on students’ motivation: A longitudinal study over 3 years of secondary school. Journal of Educational Psychology, 111(8), S. 1432–1446. https://doi.org/10.1037/edu0000353
  • Manacorda, Marco (2012). "The Cost of Grade Retention." Review of Economics and Statistics, 94(2). S. 596-606.
  • http://www.mitpressjournals.org/doi/pdf/10.1162/REST_a_00165
  • Moser, Michelle E., West, Stephen G., & Hughes, Jan N. (2012). "Trajectories of Math and Reading Achievement in Low-Achieving Children in Elementary School: Effects of Early and Later Retention in Grade." Journal of Educational Psychology, 106(1). S. 164-181 DOI: 10.1037/a0027571

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