Sediqa Laali

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hat gefragt

Warum darf man eine Klasse in einigen Kantonen nur mit ärztlichem Nachweis wiederholen?

Sediqa Laali

Sediqa Laali

21.08.2024

Warum dürfen in vielen Kantonen nur Schüler:innen mit einem ärztlichen Nachweis von Depression, verminderter Leistungsfähigkeit oder Krankheit eine Klasse wiederholen? Warum schenkt man Jugendlichen und Kindern nicht einfach ein Jahr? Sie entwickeln sich ja sehr unterschiedlich schnell…

Vielen Dank für die spannende und relevante Frage, die ich gerne versuche zu beantworten.


Es wurde intensiv zu diesem Thema geforscht und die Studienlage dazu ist sehr eindeutig. Studien in verschiedenen Ländern zeigen, dass die Schüler:innen meist im wiederholenden Jahr etwas "Luft" verspüren und kurzfristig auch etwas bessere Leistungen zeigen, dass sich dieser Vorsprung aber ziemlich schnell wieder auflöst (Moser et al., 2014; Frey und Fisher, 2016; Hattie, 2009). Das heisst, auf längere Frist bringt die Repetition für die Leistungsergebnisse (z.B. Noten im Zeugnis, späterer Schulabschluss, spätere berufliche Karriere) keinen Vorteil.


Man hat langfristig gleiche Ergebnisse, wie wenn man nicht repetiert hätte.


Studien zeigen zudem, dass die Repetition auch Nachteile mit sich bringt:

  • höhere Schulabbruchquote (Andrew & Hauser, 2021),
  • höhere Gefahr später keinen Schulabschluss zu haben (Jacob & Lefgren, 2018),
  • geringeres Selbstwertgefühl und tiefere Motivation (Allen et al., 2017).
  • Zudem kann es emotional auch belastend sein, wenn das ganze Freundesnetzwerk verloren geht oder man sogar wegen der Repetition eher stigmatisiert/ausgeschlossen wird. Diese Nachteile beeinflussen dann auch die weiteren Schuljahre.


Eine Studie hat gezeigt, dass für beide Geschlechter diese Nachteile zu finden sind. Zusätzlich fand man heraus, dass Mädchen jedoch noch ein geringeres Selbstwertgefühl haben nach einer Repetition (González-Betancor & López-Puig, 2021).


Es gibt auch aus wirtschaftlicher Sicht Studien die zeigen, dass eine Repetition hohe Kosten verursacht und es keine signifikanten Vorteile für die langfristigen Bildungsergebnisse bringt (Manacorda, 2018).


Aus dem Bauchgefühl heraus würde man denken, dass man mit etwas mehr Zeit zum Üben besser wird und weiterkommt. Dies ist aber nur der Fall, wenn man in dem Schuljahr psychisch oder physisch belastet war (z.B. Todesfall von Elternteil, stark einschränkende Krankheit mit vielen Absenzen wie bei einer Krebstherapie, psychische Erkrankungen wie Depression) und diese Belastungen die Leistungsfähigkeit eingeschränkt haben. Ist die Leistungsfähigkeit aus anderen Gründen eingeschränkt, kann man dies mit mehr Zeit nicht aufholen.


Deshalb ist auch in kantonalen Empfehlungen oder Richtlinien häufig festgehalten, dass eine Repetition nur als letzte Massnahme zu erwägen ist. Man sollte besser mit niederschwelligen oder auch verstärkten Massnahmen das Kind fördern und im neuen Schuljahr unterstützen. Dies können zum Beispiel

  • Förderstunden bei einer Fachperson für Schulische Heilpädagogik sein (auch als IF-Lehrperson, SHP bekannt).
  • Allenfalls wären eine schulpsychologische Beratung oder gewisse Abklärungen angezeigt, um herauszufinden weshalb das Kind weniger schnell lernt. Vielleicht gibt es Gründe (z.B. eine Lese-Rechtschreib-Störung), die man dann gezielt angehen kann.
  • Andere Möglichkeiten wie ein Nachteilsausgleich können in Betracht gezogen werden.
  • Wenn das Kind oder der/die Jugendliche sehr weit vom Stoff der Klasse ist entfernt ist, kann man auch individuelle Lernziele für gewisse Fächer abmachen. Dann kann man in seinem eigenen Tempo weiterlernen und hat weniger den Leistungsdruck. Dieser Entscheid muss aber sorgfältig überlegt sein, da dies auch stark einschneidend ist für die Schulkarriere eines Kindes. Je nach Kanton sind da unterschiedliche Personen involviert – meist aber die Lehrperson, die SHP, die Eltern und die Schüler:in selbst.


Wie Sie selbst sagen, entwickeln sich Schüler:innen sehr unterschiedlich schnell. Deshalb geht man als Lehrperson von einer gewissen (Leistungs-)Heterogenität in der Klasse aus. Damit alle Schüler:innen auf ihrem Niveau, wo sie gerade sind, weiterlernen können, werden unterschiedlich Lernangebote gemacht. Durch diesen differenzierten Unterricht und zusätzlicher (sonderpädagogischer) Unterstützung können Lernschwierigkeiten besser angegangen werden als mit einer Repetition.


Ich hoffe, Sie können diesen Überblick über die Studienlage und die Gedanken, die man aus pädagogischer Sicht macht, nachvollziehen. Zugleich hoffe ich, dass ich mit meiner Antwort weiterhelfen konnte.


Falls es in diesem Format möglich ist, dürfen Sie gerne auch noch eine Rückfrage stellen. Mich würde interessieren, wie Sie auf die Seite aufmerksam wurden?


mit lieben Grüssen

Janina Kraft


Quellen:

  • Allen, Cheri, Chen, Qi, Willson, Victor, & Hughes, Jan N. 2017. "Grade Retention among Students with Learning Disabilities". Learning Disabilities Research & Practice, 32(3). S. 138-151.
  • Andrew, Megan, & Hauser, Robert M. 2021. "Replicating the Grade Retention and School Dropout Relationship: Effects of Inclusion of Student, School, and Methodological Controls." American Educational Research Journal, 58(1). S. 168-203.
  • Frey, Nancy & Fisher, Douglas. 2016. "Retention, Social Promotion, and Academic Redshirting: What Do We Know and Need to Know?" Remedial and Special Education, 37(4). S. 219-229.
  • González-Betancor, S. M., & López-Puig, A. J. 2021. "Grade Retention and Academic Performance of Primary School Students by Gender." Social Psychology of Education, 24. S. 627-647.
  • Hattie, John. 2009. Visible Learning: A Synthesis of Over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement. Routledge.
  • Jacob, Brian A., & Lefgren, Lars. 2018. "The Impact of Grade Retention on High School Completion." Journal of Labor Economics, 36(4). S. 919-948.
  • Manacorda, Marco. 2018. "The Cost of Grade Retention." Review of Economics and Statistics, 100(3). S. 546-561.
  • Moser, Michelle E., West, Stephen G., & Hughes, Jan N. 2014. "Trajectories of Math and Reading Achievement in Low-Achieving Children in Elementary School: Effects of Early and Later Retention in Grade." Journal of Educational Psychology, 106(1). S. 164-181.

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