Warum dürfen in vielen Kantonen nur Schüler:innen mit einem ärztlichen Nachweis von Depression, verminderter Leistungsfähigkeit oder Krankheit eine Klasse wiederholen? Warum schenkt man Jugendlichen und Kindern nicht einfach ein Jahr? Sie entwickeln sich ja sehr unterschiedlich schnell…
Vielen Dank für die spannende und relevante Frage, die ich gerne versuche zu beantworten.
Es wurde intensiv zu diesem Thema geforscht und die Studienlage dazu ist ziemlich eindeutig. Studien in verschiedenen Ländern belegen, dass die Schüler:innen meist im wiederholenden Jahr etwas "Luft" verspüren und kurzfristig auch etwas bessere Leistungen zeigen, dass sich dieser Vorsprung aber ziemlich schnell wieder auflöst (Bless et al., 2004, Moser et al., 2012; Hattie, 2009). Das heisst, auf längere Frist bringt die Repetition für die Leistungsergebnisse (z.B. Noten im Zeugnis, späterer Schulabschluss, spätere berufliche Karriere) keinen Vorteil.
Man hat langfristig gleiche Ergebnisse, wie wenn man nicht repetiert hätte.
Studien zeigen zudem, dass die Repetition auch Nachteile mit sich bringt:
Es gibt auch Studien, die aus wirtschaftlicher Sicht zeigen, dass eine Repetition hohe Kosten verursacht und es keine signifikanten Vorteile für die langfristigen Bildungsergebnisse bringt (Manacorda, 2012).
Aus dem Bauchgefühl heraus würde man denken, dass man mit etwas mehr Zeit zum Üben besser wird und weiterkommt. Dies ist aber nur der Fall, wenn man in dem Schuljahr psychisch oder physisch belastet war (z.B. Todesfall von Elternteil, stark einschränkende Krankheit mit vielen Absenzen wie bei einer Krebstherapie, psychische Erkrankungen wie Depression) und diese Belastungen die Leistungsfähigkeit eingeschränkt haben. Ist die Leistungsfähigkeit aus anderen Gründen eingeschränkt, kann man dies mit mehr Zeit nicht aufholen.
Deshalb ist auch in kantonalen Empfehlungen oder Richtlinien häufig festgehalten, dass eine Repetition nur als letzte Massnahme zu erwägen ist. Man sollte besser mit niederschwelligen oder auch verstärkten Massnahmen das Kind fördern und im neuen Schuljahr unterstützen. Beispiele solcher Fördermassnahmen:
Wie Sie selbst sagen, entwickeln sich Schüler:innen unterschiedlich schnell. Deshalb geht man als Lehrperson von einer gewissen (Leistungs-)Heterogenität in der Klasse aus. Damit alle Schüler:innen auf ihrem Niveau, wo sie gerade sind, weiterlernen können, werden unterschiedliche Lernangebote gemacht. Durch diesen differenzierten Unterricht und zusätzlicher (sonderpädagogischer) Unterstützung können Lernschwierigkeiten besser angegangen werden als mit einer Repetition.
Ich hoffe, Sie können diesen Überblick über die Studienlage und die Gedanken, die man aus pädagogischer Sicht macht, nachvollziehen. Zugleich hoffe ich, dass ich mit meiner Antwort weiterhelfen konnte.
Mit lieben Grüssen
Janina Kraft
Quellen:
Partnerschaften
Schweizerischer Nationalfonds
Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften
Gebert Rüf Stiftung
Ernst Göhner Stiftung
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