Frage ausführlich

Woher kommt Kants Kategorischer Imperativ?

Lili Gamba

Lili Gamba

04.03.2024

Liebe Forscher*innen, könnten Sie mir bitte den kategorischen Imperativs von Kant und seine Herleitung verständlich erklären? Liebe Grüsse

Antwort ausführlich

Der kategorische Imperativ vereinigt die natürliche mit der moralischen Welt.

Einer der schönsten wie berühmtesten Sätze aus Kants Werk ist folgender:


"Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir."


Wenn sich das Nachdenken mit diesem Satz beschäftigt, fällt ihm womöglich auf, dass das moralische Gesetz nicht in derselben Art und Weise in uns ist, in welcher sich der gestirnte Himmel über uns befindet.


Der gestirnte Himmel befindet sich über uns in unserer Eigenschaft als Naturwesen. Als solche unterliegen wir denselben Gesetzen wie die Sterne und alle anderen Naturdinge, nämlich den Naturgesetzen. Ein Gesetz zeichnet sich dadurch aus, dass es die Dinge, die unter es fallen, mit Notwendigkeit bestimmt. Wenn ich beispielsweise den Ball, den ich in meiner Hand halte, loslasse, wird er nach unten fallen, und zwar gemäss des Gesetzes der Schwerkraft und somit notwendigerweise. Als Naturwesen gelten die Naturgesetze für uns auf dieselbe Weise, wie sie dies für alle anderen Naturdinge tun, seien es nun Sterne am Himmel oder Bälle in unserer Hand. Wenn wir im Freibad vom Sprungturm springen, fallen wir mit exakt derselben Notwendigkeit nach unten, wie dies ein Ball täte, den wir von dort oben herunterfallen lassen.


Das moralische Gesetz ist hingegen nicht in dem Sinn in uns, in welchem man womöglich sagen könnte, dass unser Herz oder unsere Wirbelsäule in uns ist, sondern in dem Sinn, dass es uns in unserem Handeln als dessen Richtschnur bewusst ist. So wie die Naturgesetze die Dinge in der Natur bestimmen, bestimmen die moralischen Gesetze die Mitglieder der moralischen Welt. Nur wir als handelnde und somit vernunftbegabte Wesen haben das moralische Gesetz in uns und gehören somit zur moralischen Welt. Sterne oder Bälle hingegen können nicht handeln. Als solche sind sie der moralischen Welt aussen vor.


Der kategorische Imperativ bildet die Vereinigung dieser beiden Welten, d.h. der natürlichen und der moralischen Welt. Er stellt nämlich die Art und Weise dar, in welcher wir in unserer doppelten Natur als Naturwesen einerseits und vernunftbegabte Wesen andererseits dem moralischen Gesetz unterliegen.


Das moralische Gesetz – ebenso wie übrigens auch das positive Recht, welches laut Kant in gewisser Weise ebenfalls zum moralischen Gesetz gehört – verhält sich zu uns als Gebot. Ein Gebot bestimmt das, was wir tun müssen. So meint Kant beispielsweise, dass das moralische Gesetz uns gebietet, stets die Wahrheit zu sagen, was wiederum bedeutet, dass wir laut Kant stets die Wahrheit sagen müssen. Im Müssen eines Gebots drückt sich die Notwendigkeit des moralischen Gesetzes aus, welche ihm in seiner Eigenschaft als Gesetz zukommt. Ein Gebot wiederum drückt sich in der Sprachform des Imperativs aus. Deswegen erscheint uns das moralische Gesetz in der Form eines Imperativs. So zum Beispiel: "Sag die Wahrheit!"


Allerdings kommt im Gebotscharakter des moralischen Gesetzes für uns zugleich dessen fundamentaler Unterschied zu einem Naturgesetz zum Ausdruck. Dass wir das, was uns das moralische Gesetz gebietet, tun müssen, bedeutet zugleich, dass wir es zwar tun können, aber nicht notwendigerweise tun. So ist es uns zwar stets möglich, die Wahrheit zu sagen (so unangenehm dies bisweilen auch sein mag), aber ganz offensichtlich tun wir das nicht immer und in diesem Sinn nicht notwendigerweise. Dasjenige, was durch ein Naturgesetz bestimmt ist, geschieht hingegen notwendigerweise in genau jenem Sinn. So fallen wir notwendigerweise nach unten, wenn wir vom Sprungturm springen. Genau deswegen wäre es allerdings wiederum merkwürdig, davon zu sprechen, dass wir nach unten fallen müssen, wenn wir vom Sprungturm springen, oder, anders ausgedrückt: diese Redeweise ist nur dann stimmig, wenn wir das "müssen" hier anders verstehen als das "müssen" in der Aussage, dass wir stets die Wahrheit sagen müssen. Ebenso ist dasjenige, was durch ein Naturgesetz bestimmt ist, streng genommen nichts, was wir tun, sondern stattdessen etwas, was uns widerfährt. So ist zwar der Sprung vom Sprungturm etwas, das wir tun, aber der anschliessende Fall geschieht uns stattdessen bloss.


Dass es uns möglich ist, dem moralischen Gesetz Folge zu leisten, gilt, weil wir vernunftbegabte Wesen sind und somit zur moralischen Welt gehören. Dass wir dies nicht notwendigerweise tun, gilt hingegen, weil wir zugleich Naturwesen sind und somit zur Natur gehören. Deswegen vereinigt der kategorische Imperativ die beiden Welten, denen wir angehören. Für reine Vernunftwesen – d.h. für Wesen, welche nicht zur Natur, sondern ausschliesslich zur moralischen Welt gehören – würde das moralische Gesetz hingegen zwar ebenfalls gelten, aber es wäre ihnen kein Gebot, da solche Wesen notwendigerweise dem moralischen Gesetz Folge leisten würden. Anders ausgedrückt: für reine Vernunftwesen wäre das moralische Gesetz in gewisser Hinsicht auf dieselbe Art und Weise Gesetz, wie dies die Schwerkraft für uns als Naturwesen ist.


Kant formuliert den kategorischen Imperativ auf verschiedene Art und Weisen. Die grundlegende Formulierung lautet: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die Du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde." Unsere "Maxime" ist für Kant dasjenige Prinzip, welches wir in unserem Handeln befolgen. Eine unmoralische Maxime wäre zum Beispiel: "Ich sage die Wahrheit nur dann, wenn dies keine unangenehmen Konsequenzen für mich hat." Der kategorische Imperativ fordert somit von uns, nur nach solchen Maximen zu handeln, welche gleichzeitig zu einem Gesetz für alle moralischen Wesen und somit zur Notwendigkeit taugen. Das klingt zunächst abstrakt, aber die Idee ist uns in Wirklichkeit wohlbekannt. Die rhetorische Frage, mit der wir charakteristischerweise die Moralität einer Handlung in Abrede stellen – “Was, wenn alle dies tun würden?” – deutet darauf hin, dass wir die Handlungsmaxime einer Person gerade nicht für verallgemeinerbar halten. Um beim Beispiel von soeben zu verbleiben: "Was, wenn alle nur dann die Wahrheit sagen würden, wenn dies keine unangenehmen Konsequenzen für sie hat?" Hiermit drücken wir somit indirekt nichts anderes als die Forderung aus, dass unser Handeln zum allgemeinen Gesetz taugen muss, und somit genau diejenige Forderung, die der kategorische Imperativ an uns stellt.


Indem der kategorische Imperativ als Art und Weise, wie sich das moralische Gesetz auf uns bezieht, die Tauglichkeit unseres Handelns zum allgemeinen Gesetz der moralischen Welt einfordert, macht uns das moralische Gesetz zu gesetzgebenden Mitgliedern der moralischen Welt. In einer weiteren Formulierung des kategorischen Imperativs drückt Kant genau diesen Gedanken aus: “Demnach muss ein jedes vernünftiges Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre.”


Mit einem “Reich der Zwecke” meint Kant nichts anderes als eine Vereinigung vernunftbegabter Wesen unter moralischen Gesetzen und somit in der moralischen Welt. Unsere Würde als Menschen besteht für Kant genau darin, dass wir in unserem Handeln zu jener Art der Gesetzgebung fähig sind. Dem kategorischen Imperativ Folge zu leisten und somit moralisch zu handeln, ist von daher nichts anderes, als unserer eigenen Menschenwürde gerecht zu werden.


Moralisches Handeln ist deswegen aus Kants Sicht in letzter Konsequenz eine Frage der Selbstachtung. Nachdem wir im moralischen Handeln selbst gesetzgebend tätig werden, fordert der kategorische Imperativ zugleich eigenständiges Denken und Handeln von uns ein. Somit schließt sich hier der Kreis zu einem anderen schönen und berühmten Satz aus Kants Werk: “Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!” Alles andere wäre unter unserer Würde.

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