Frage ausführlich

Wie sieht das ideale Leben eines Menschen aus?

Lara Oberholzer

Lara Oberholzer

12.12.2023

Wie sieht das ideale Leben eines Menschen aus?

Antwort ausführlich

Ich habe einige Vorbehalte gegenüber dem Wunsch, ein ideales Leben anzustreben ...

Ihre Frage wirft zwei grundlegende Fragen auf:


  1. 1. Gibt es einen objektiven Standard, an dem wir die Qualität eines menschlichen Lebens messen können?
  2. 2. Sollten wir ein möglichst gutes, ideales Leben anstreben?


Alle diese Fragen werden in der Philosophie unter dem Stichwort des «guten Lebens» diskutiert, manchmal sprechen wir aber auch von einem «gelingenden» oder von einem «glücklichen Leben». Diese unterschiedlichen Ausdrücke stehen für unseren Anspruch, das eigene Leben nicht einfach irgendwie zu verbringen, sondern es so zu gestalten, dass wir es als ein gutes Leben verstehen können.


Lässt sich nun eine allgemeine Antwort auf die Frage nach dem guten, glücklichen, gelingenden Leben geben? Hier lassen sich zwei Positionen unterscheiden, eine objektivistische und eine subjektivistische.


Die objektivistische Position geht davon aus, dass wir verallgemeinerbare Aussagen darüber machen können, worin ein gutes menschliches Leben besteht. Sie bejaht also die Frage, ob es einen objektiven Standard gibt, an dem wir die Qualität eines menschlichen Lebens messen können. Vertreter:innen dieser Position betonen oft die Vernunftfähigkeit und den sozialen Charakter des Menschen. Entsprechend gehört es zu einem guten Leben, dass die Menschen ihr Vernunftpotential ausschöpfen und soziale Beziehungen eingehen. Aber auch Güter wie Gesundheit oder Zufriedenheit können Elemente eines guten, glücklichen, gelingenden Lebens darstellen.


Ein wichtiges Charakteristikum dieser Position ist, dass sie moralische Anliegen als Teil des guten Lebens berücksichtigen kann. Wir müssen uns entsprechend nicht zwischen einem guten oder einem moralischen Leben entscheiden. Das ist einerseits attraktiv, weil die Moral nicht von aussen an uns herangetragen wird und so unser gutes Leben gefährdet. Andererseits deutet sich hier auch eine Schwierigkeit an. Im Alltag sehen wir oft ein Konfliktpotential zwischen einem guten, glücklichen Leben und den Forderungen der Moral. Ein Grund dafür ist, dass wir im Alltag unter «Glück» ein Gefühl verstehen und dieses Gefühl keinen notwendigen Bezug zur Moral hat. Auch wenn wir zugestehen können, dass unsere Nachbarin glücklich ist, wenn sie mit ihrem teuren Sportwagen Ausfahrten macht, können wir ihre Ausfahrten moralisch missbilligen. Noch allgemeiner formuliert: Unterschiedliche Menschen machen unterschiedliche Dinge glücklich und diese Dinge können durchaus moralisch fragwürdig sein.


Diesen Aspekt betonen Vertreter:innen einer subjektivistischen Position. Sie gehen davon aus, dass wir alle nach einem guten, glücklichen Leben streben, und sie verstehen unter «Glück» ein angenehmes Gefühl. Weil uns aber ganz unterschiedliche Dinge in diesem Sinne glücklich machen – abhängig von unseren Bedürfnissen, Interessen und Fähigkeiten – kann es ihnen zufolge keinen objektiven Standard des guten Lebens geben. Wir können also nicht für alle festhalten, worin ein gutes Leben besteht. Zugespitzt formuliert: Die Frage nach dem guten Leben mündet in eine Geschmacksfrage. Während die einen im Kampf gegen die globale Armut ihr Glück finden, werden andere beim Gamen oder Musizieren glücklich.


Auch wenn es gemäss der subjektivistischen Position keine allgemeinen inhaltlichen Kriterien dafür gibt, worin wir unser Glück finden (sollten), können ihre Vertreter:innen durchaus Ratschläge geben, was wir beachten müssen, um ein gutes Leben zu führen. Darin unterscheiden sie sich nicht von ihren objektivistischen Kolleg:innen. So sollten wir uns wohl nicht nur an kurzfristigem Glück ausrichten, sondern sicherstellen, dass das eigene Leben auf die Länge möglichst glücklich ist. Das führt uns zur zweiten Frage.


Sind wir an einem guten Leben interessiert, liegt es nahe, dass wir an einem möglichst guten Leben interessiert sind. Das verstehe ich hier unter einem «idealen Leben». Doch vielleicht ist es zum einen nicht notwendig, nach einem idealen Leben zu streben, zum anderen vielleicht sogar kontraproduktiv.


Der erste Punkt ist uns aus verschiedenen religiösen Traditionen vertraut, die ein Ideal entwerfen, dem nur wenige Menschen entsprechen können. So können nicht alle in einem Orden oder als Eremit:in leben. Auch wenn solche Lebensweisen vorbildlich sind, sind sie nicht für alle sinnvoll und angemessen. Möglicherweise genügt es ganz allgemein, ein Leben zu führen, das gut genug ist.


Der zweite Punkt gibt zu bedenken, dass wir im Bestreben, ein ideales Leben zu führen, das ideale Leben gerade verpassen könnten. Erstens ist das menschliche Leben derart vielgestaltig, dass wir dessen Reichhaltigkeit übersehen könnten, wenn wir uns auf einen bestimmten Standard oder Wert konzentrieren. Zweitens droht unser Wunsch nach einem idealen Leben genau das zu zerstören, wonach wir suchen. Der Grund ist der Folgende: Unsere tiefsten Glücksempfindungen hängen oft damit zusammen, dass wir etwas Wertvolles um seiner selbst willen tun oder erreichen. Das Zusammensein mit Freund:innen oder das Geben eines anspruchsvollen Konzerts bereichern uns und machen uns glücklich, weil wir beides um seiner selbst willen schätzen. Wollen wir nun aber beispielsweise mit Freund:innen zusammen sein, weil wir uns erhoffen, dadurch ein besseres oder glücklicheres Leben zu haben, verfehlen wir den Kern der Sache möglicherweise. Wir untergraben den Wert, den das Zusammensein mit Freund:nnen hat, indem wir es als Mittel zum Glück betrachten. Das verweist auf einen interessanten Aspekt: Das Glück ruht auf anderem auf und wir können es nicht direkt anstreben. Drittens können wir viele Aspekte unseres Lebens nicht beeinflussen. Haben wir zu hohe Erwartungen, kann das zu Enttäuschungen führen. Gerade diese letzte Überlegung hat einige Denkschulen und weltanschauliche Strömungen zur Empfehlung veranlasst, vom Leben möglichst wenig zu erwarten und uns so stark wie möglich von eigenen Interessen, Wünschen und Hoffnungen zu befreien. Aber damit wird wohl das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Die Antwort auf die Möglichkeit von Enttäuschungen suchen wir besser in einem vernünftigen Umgang mit unseren Interessen, Wünschen und Hoffnungen als in ihrer vollständigen Aufgabe.


Diese Vorbehalte gegenüber dem Streben nach einem idealen Leben sind nicht zwingend und bestreiten auch nicht, dass wir uns an der Frage nach dem idealen Leben orientieren können. Sie weisen aber darauf hin, dass sie etwas problematisch Verführerisches an sich hat.

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