Frage ausführlich

Wie stelle ich wissenschaftliche Distanz zu einem emotionalen Text her?

Lisa mia  Krehl

Lisa mia Krehl

22.02.2024

Ich analysiere für meine Maturarbeit die Autobiografie meines Grossvaters und darum würde ich gerne wissen wie man eine wissenschaftliche Distanz zu einem familiär, emotionalen Text aufbauen kann.

Antwort ausführlich

Schreibt man über einen Menschen, schreibt man immer auch über viele Menschen.

Hallo Lisa


Vielen Dank für deine gute und kniffelige Frage, über die ich länger nachgedacht habe. Denn sie beschäftigt mich auch sehr. Auch wenn man nicht über seine eigene Familie schreibt, so können einen doch Themen, die zum Beispiel mit Politik, Umwelt oder Gewalt zu tun haben, sehr bewegen.


Um Distanz herzustellen, kann es hilfreich sein, im Einzelnen nach dem zu suchen, was kollektiv, geteilt, allgemein oder strukturell ist. Du kannst also über das Einzelne in all seiner Besonderheit nachdenken, aber gleichzeitig danach suchen, was das Einzelne mit vielen anderem teilt.


Welches Allgemeine und Geteilte da relevant ist, hängt ganz von deiner Fragestellung ab. Dein Grossvater war zum Beispiel Teil einer bestimmten Generation. Er wurde männlich sozialisiert, er hatte eine Ausbildung oder einen Beruf, er hatte Hobbies und Leidenschaften. All das und vieles andere mehr hat er mit sehr vielen anderen Menschen geteilt.


Viele Menschen haben Autobiografien geschrieben und oft haben die Autobiografien, in der Art, wie sie erzählt sind, viele Ähnlichkeiten, obwohl die gelebten Leben sehr unterschiedlich sind. Wenn Du die ganz persönliche Lebensgeschichte in Verbindung mit Gedankenströmungen, historischen Ereignissen, geteilten Praktiken, Schreibformen oder Ritualen bringst, dann wird das Wissen, dass dein Schreiben hervorbringt, wesentlich objektiver. Dadurch gewinnst auch du einen Abstand dazu, weil es nicht nur um deinen Grossvater geht, sondern um deinen Grossvater als Menschen seiner Zeit, als Angehörigen einer bestimmten Schicht – als Menschen, der von bestimmten historischen Erfahrungen und so weiter geprägt ist. Schreibt man über einen Menschen, schreibt man immer auch über viele Menschen.


Ein zweites Verfahren kann darin liegen, überhaupt über dein Verfahren nachzudenken. Woher weisst du das, was du weisst? Hast du in der Autobiografie die sprachlichen Bilder untersucht? Hast du sie mit anderen Autobiografien verglichen? Hast du auf Farbsymboliken geachtet oder auf den Einbezug von externen Quellen? Hast du auf das Bild von Männlichkeit, sozialer Klasse oder ethnischer Zugehörigkeit geachtet? Wenn du dir und deinen Leser:innen erklärst, nach welchen Kriterien und mit welchen Verfahren du deinen eigenen Text generiert hast, ist er schon sehr viel wissenschaftlicher und distanzierter. Denn seine Gestalt ist nicht von willkürlichen Einfällen geprägt, sondern von Kriterien, die du gesetzt hast und die du benennen kannst und die die Lesenden nachvollziehen können. Damit schaffst du ein Gerüst, an dem du dich auch selbst festhalten kannst, falls du dir unsicher bist, was du da tust oder ob es wissenschaftlich ist.


Zum Schluss möchte ich darauf hinweisen, dass Emotionen sehr wertvoll sind – auch in der Wissenschaft! Emotionen sagen uns sehr viel darüber, aus welchem Blickwinkel wir auf ein Thema schauen, welche – auch politischen – Effekte ein Thema haben kann und führen uns zu Sachverhalten, die wichtig sind, die wir aber intellektuell vielleicht noch nicht benennen oder begreifen können. Emotionen sind auch nichts beliebig-individuelles, sondern haben viel mit der Gesellschaft zu tun, in der wir leben, mit den Bildern, mit denen wir grossgeworden sind, mit den ästhetischen Eigenschaften unserer Untersuchungsgegenstände. Den Emotionen zu folgen und sie auch als eine Form der Erkenntnis ernst zu nehmen, kann also auch in einer wissenschaftlichen Arbeit ein wichtiger Schritt sein.


Ich wünsche Dir viel Glück beim Schreiben deiner Maturaarbeit. Wie gesagt: Die Frage, die du mir gestellt hast, lässt sich nicht ganz auflösen. Auch in meinen eigenen Arbeiten denke ich stets darüber nach und suche nach neuen Möglichkeiten, Distanz herzustellen, ohne die Emotionen zu verleugnen. Ich bin gespannt, welche Lösungen du für dich findest.


Beste Grüsse

Sebastian

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